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Baade 152/I V1 vor dem Erstflug am 4. Dezember 1958

Vor 60 Jahren flog der DDR-Jet Baade-152 erstmals über Dresden

Von 1954 bis 1961 investierte der Staat 2,3 Mrd. Mark in eine moderne Luftfahrtindustrie

Von Holger Lorenz (18. September 2018)

Als die Bewohner der Dresdner Randbezirke in den Mittagsstunden des 4. Dezember 1958 ein infernalisches Pfeifen über ihren Köpfen wahrnehmen und in den Himmel schauen, sehen sie ein silbern glänzendes Flugobjekt schnell auf sich zukommen. Ist es etwa die neuartige Düsenmaschine, die am Flughafen Klotzsche gebaut wird und von deren Bau in den Zeitungen zu lesen war? Jetzt fliegt das Flugzeug direkt über die neugierige Menge in etwa 1.000 Metern Höhe dahin. Ja, es ist es. Man sieht die Düsentriebwerke an Gondeln unter den Flügeln hängen. Ihr Pfeifen und Fauchen ist kilometerweit zu hören. Auch die 35-Grad-Pfeilflügel, die moderne Düsenflugzeuge auszeichnen, sind deutlich zu erkennen. Das Flugzeug ist unter der schlichten Bezeichnung „152“ bekannt. Doch Eingeweihte wissen zu berichten, daß es sich bei der 152 um ein Junkersflugzeug handelt. Die Zahl 152 stelle die werksseitige Entwicklungsnummer dar, was andeute, welch lange Entwicklungslinie die Type 152 mit 151 Vorgängermustern habe. Es sei also keineswegs so, daß hier ein aus dem Nichts geschaffenes Flugzeug am Himmel kreise.

Während die Dresdner Einwohner bewundernd in den Himmel starren und sich dabei wilden Spekulationen hingeben, ist die Besatzung der 152 V1 konzentriert bei der Sache. Ihr Flugauftrag lautet: Fliegen einer großen Platzrunde im Flughafenbereich von Dresden-Klotzsche in einer Höhe von 1.000 bis 1.500 Metern mit ausgefahrenem Fahrwerk und einer Geschwindigkeit von 280 bis 320 km/h. In der „großen Schachtel“, wie die Platzrunde auch genannt wird, sollen sie das Verhalten der Triebwerke in unterschiedlichen Drehzahlbereichen und die Reaktionen des Flugzeuges auf die Steuereingaben beurteilen. Am Steuer sitzt Willi Lehmann, einst Flugversuchsingenieur bei Junkers und nach dem Krieg in der Sowjetunion bei Junkers-Chefkonstrukteur Brunolf Baade auf dem Strahlbomber Ju/EF-150 geflogen. An seiner Seite Co-Pilot Kurt Bemme, während des Krieges Fluglehrer, sowie Bordingenieur Paul Heerling, ein Urgestein der Junkers-Flugerprobung.

Die 152 V1 war um 11.18 Uhr auf der 2.500 Meter langen Startbahn in Dresden-Klotzsche abgehoben und in Richtung Elbtal geflogen. Sie hat acht Tonnen Treibstoff für anderthalb Flugstunden an Bord und eine umfangreiche

 

technische Ausrüstung – einen sogenannten Automatischen Beobachter, der in festgelegten Zeitintervallen rund 250 Meßdaten aufzeichnet, angefangen von den Triebwerksdaten über die Temperaturen und Strömungsgeschwindigkeiten in den Triebwerksgondeln, die allgemeinen Flugdaten wie Höhe, Geschwindigkeit, Außentemperatur, Anstellwinkel, Hängewinkel, Schiebwinkel, Ruderausschläge usw. bis hin zu den gemessenen Schwingungen an Flügel, Leitwerk und Gondeln. All das ist notwendig, um genaue Aussagen zum Flugzeug und seinen Aggregaten zu erhalten. Die große Schachtel soll dabei in etwa 25 Minuten durchflogen und anschließend gelandet werden.

Als die 152 V1 nach 35 Minuten um 11.53 Uhr in Klotzsche aufsetzt, qualmen beim Bremsen die Reifen des Hauptfahrwerkes in denselben Intervallen, wie die Piloten bremsen. Versuchspilot Willi Lehmann bemängelt, daß die Kraftstoffversorgung der Triebwerke beider Flügelseiten unterschiedlich gewesen sei, was beim Abstieg Probleme mit der Drehzahleinstellung bereitet habe. Er wünschte eine Kraftstoffverbindungsleitung zwischen den rechten und den linken Triebwerken. Als dann die V1 in den nächsten Tagen gründlich untersucht wird, stellen sich viele weitere kleinere und größere Mängel heraus. Unter anderem auch, daß die Bremsautomaten falsch herum eingebaut waren, wodurch die Bremsen des Hauptfahrwerks zum Blockieren neigten, was das Qualmen der Reifen verursacht hatte. Offiziell dagegen war der Erstflug vom 4. Dezember 1958 ein großer Erfolg. Aber so ist es immer im Verkündungsjournalismus – die Öffentlichkeit wird von der Wahrheit ausgeschlossen. Man wolle die Bevölkerung schließlich nicht beunruhigen, sagen dann die Vertreter der Staatsmacht.

Bereits bei ihrem zweiten Flug am 4. März 1959 stürzte die 152 V1 während des Landeanfluges nach knapp einer Stunde Flugzeit ab, nachdem die Maschine in Höhen von 6.000 Metern und mit Geschwindigkeiten bis 500 km/h operierte. Der Absturzbericht wurde dann in nur einer Woche erstellt und kam sofort in den Giftschrank. Eine offizielle Erklärung zu dem Vorgang ist nie erfolgt. Die anschließende Weisung hieß: Weitermachen und die verbesserten Maschinen 152/II V4 und V5 schnellstmöglich in die Luft bringen.

 Die 152/I V1 am 4. Dezember 1958 über Dresden-Klotzsche.

Walter Ulbricht nahm am 30. April 1958 die "152" in Augenschein: dahinter links Brunolf Baade, Konstrukteur Johannes Haseloff und VfI-Direktor Karl Pätzold.

Die Arbeiterschaft in den Luftfahrtbetrieben und die interessierten Bevölkerungsteile in der gesamten DDR stellten sich jedoch schon die Fragen: Was ist hier passiert? Wer ist schuld? Kann das wieder passieren? Ist die kleine DDR überhaupt in der Lage, solche hochkomplexen Gebilde wie Strahlflugzeuge fehlerfrei zu bauen?

Wenn man diesen Fragenkomplex wahrhaft beantworten will, muß man tief in die politischen, wirtschaftlichen, personellen und technischen Gegebenheiten jener Jahre hinabsteigen. Dieser Versuch soll hier – in Kurzform – unternommen werden.

Vor dem Aufbau der DDR-Luftfahrtindustrie in Dresden, Karl-Marx-Stadt, Pirna, Schkeuditz und Ludwigsfelde der Jahre 1954 bis 1961 hatte es schon einmal einen ähnlichen Versuch von 1952 bis 1953 in der traditionsreichen Junkersstadt Dessau gegeben. Auf Beschluß der 2. Parteikonferenz der SED, die am 12. Juli 1952 zu Ende ging, sollte das Junkerswerk wieder aufgebaut und die Produktion von Militärflugzeugen aufgenommen werden, speziell der Lizenzbau des sowjetischen Jagdflugzeuges MiG-15. Warum? Wohl, um die Grenzen der blutjungen DDR zuverlässig zu schützen. Der 17. Juni 1953 mit der massenweisen Empörung der Arbeiter über ihre Arbeitsbedingungen, die so massiv von der SED-Spitze nicht erwartet worden war, sowie das Umschwenken der sowjetischen Führung in Bezug auf ihr Reparationsverlangen, unterband schließlich im September 1953 alle diesbezüglichen Aktivitäten. In den zwei Jahren war aber bereits ordentlich in Dessau investiert worden, die Konstruktion und der Bau eigener Flugzeuge vorangeschritten und über 1.500 Arbeitskräfte eingestellt. Selbst die UdSSR hatte bereits 10 Flugzeuge MiG-15 in Kisten verpackt geliefert. Dieser plötzliche Abbruch eines mit viel Geld angeschobenen Staatsauftrages hatte bei den Beteiligten in Dessau ein tiefes Mißtrauen hinterlassen. Sie bekamen zwar Arbeit an anderer Stelle zugewiesen, aber eben auch Arbeit meist unter ihrem Qualifizierungsniveau und zu niedrigeren Gehältern. Sie mußten längere Arbeitswege in Kauf nehmen, sich in eine neue Arbeit und ein neues Arbeitskollektiv einfügen usw. usf. Kurz, diese Leute waren 1955 zum Großteil nicht mehr für eine Mitarbeit an einem nunmehr rein zivilen Flugzeugbau zu gewinnen. Dem späteren Flugzeugbau in Dresden, Pirna und Karl-Marx-Stadt fehlte es aus diesem Grunde in Größenordnungen an qualifiziertem Personal. Brunolf Baade äußerte 1955 in einer Fragestunde bei der Staatssicherheit, daß nur 500 Leute mit einer Laufbahn bei Junkers, Arado und Heinkel 20.000 Unbedarfte anlernen, anleiten, ihre Arbeit überwachen, Fehler korrigieren, die Planungsarbeit für andere übernehmen und deshalb zu ihrer eigentlichen Aufgabe, der technischen Führung des Großkonzern, kaum noch kämen.

Betrachtet man die Jahre 1949 bis 1961 aus wirtschaftlicher Sicht, wird die Schwäche der DDR-Wirtschaft sofort augenscheinlich. In den ersten fünf Jahren wurde ein Nationaleinkommen, also der Neuwert aller erzeugten Waren im Lande, von 30 Mrd. Mark (1950) bis 46 Mrd. Mark (1954) erzeugt. Die davon zu leistenden Reparationen an die Sowjetunion sollen jährlich zwischen drei und vier Mrd. Mark betragen haben, vielleicht auch doppelt so hoch. Die industriellen Investitionen lagen dagegen bei nur 1,5 bis 3,1 Mrd. Mark. Mehr konnte sich die DDR einfach nicht leisten. Deshalb der Spruch: „Erst mehr arbeiten, dann mehr essen“. Erschwerend kam hinzu, daß die zu leistenden Reparationen vor allem den vorhandenen Maschinenpark dezimierten. Ohne Maschinen aber ist menschliche Arbeit nicht effektiv. Es blieb den Ostdeutschen nur viel Schweiß und wenig Ertrag. Dieser Zustand hielt bis Ende 1953 an. Danach erließ die Sowjetunion der DDR alle weiteren Reparationen. Mit diesem freien Geld nun wollte SED-Chef Walter Ulbricht fortschrittliche Industrien fördern, um das Nationaleinkommen sprunghaft zu steigern. Denn Ulbricht wußte,wie wichtig laufende industrielle Investitionen für eine gedeihliche Entwicklung der Volkswirtschaft sind. Von einem modernen Flugzeugbau in der rohstoffarmen DDR versprach sich Ulbricht im internationalen Handel die so wichtigen Deviseneinnahmen, um Bananen aber eben auch Kupfer und moderne Maschinen auf dem Weltmarkt in genügender Menge einkaufen zu können.

Von 1946 bis 1954 hatte ein tausendköpfiges Junkerskollektiv, das seit der Ju 88 zusammenarbeitete, in der Sowjetunion für Stalin an neuen Hochleistungsflugzeugen und Strahltriebwerken gearbeitet. Auf beiden Gebieten war der Junkerskonzern am Ende des Krieges führend in der Welt gewesen. 

Das Junkerskollektiv um Brunolf Baade schuf in der Sowjetunion nicht nur die Voraussetzungen für den Bau der Großbomber von Tupolew und Mjassischtschew, noch viel mehr brachten diese Leute den jungen sowjetischen Ingenieuren eigenes Denken und Durchsetzungskraft ihrer Ideen bei. Denn das war in der Sowjetunion unter Stalin nicht erwünscht. Doch nur so ließen sich im komplexen Flugzeugbau gegen alle Widerstände zum Trotz neue Ideen durchsetzen. Das Ergebnis waren die Tu-16, die Tu-95 und die imposante M-4, die die us-amerikanischen Konkurrenzmuster von Boeing oder Convair auf die Plätze verwiesen, einfach, weil sie mit weniger komplizierter Technik dasselbe Ziel erreichten und so robuster und damit tauglicher für den Kriegsfall waren.

Brunolf Baade war es schließlich, der diesen Spezialisten eine Brücke zurück nach Deutschland baute. Er sah sich in der Verantwortung für diese Leute, da er am Ende des Krieges durch seine Verhandlungen mit der russischen Besatzungsmacht ungewollt dafür gesorgt hatte, daß diese Leute ungefragt in die UdSSR samt Junkerswerk „zwangsversetzt“ worden waren. „Lebende Reparationsleistung“ nannte man das damals. Nun, im Herbst 1953, hatte Brunolf Baade mit sehr viel Verhandlungsgeschick und Nachdruck erreicht, daß die Truppe zurück nach Deutschland durfte. Um aber diese Leute an die DDR zu binden, mußte eine Aufgabe her, die diese Leute bei der Ehre packte, und die mehr als sehr gute Verdienste versprach. Die Aufgabe hieß: Konstruktion und Bau eines Düsenverkehrsflugzeuges. Brunolf Baade versprach Walter Ulbricht einen in der Welt eindrucksvollen „Regierungsflieger“, eine Befruchtung der übrigen Industrien mit modernen Ideen aus der Luftfahrttechnik und der DDR-Fluglinie Lufthansa ein hochmodernes Flugzeug. Der Sowjetunion wiederum versprach er, daß von seinem Kollektiv über alle in der Sowjetunion verwirklichten Projekte Stillschweigen bis in den Tod gewahrt würde, und daß diese Leute weitgehend in der DDR gehalten werden würden, eben durch eine große Aufgabe und entsprechende Spezialistengehälter. Mit diesem Ansinnen konnte Baade die Führungen in Berlin wie auch in Moskau überzeugen.

Die DDR-Führung stellte aus den eingesparten Reparationsleistungen für die neu aufzubauende Luftfahrtindustrie bis 1960 etwa 2,3 Mrd. Mark als Anschubfinanzierung bereit. Mit diesem Geld wurden vor allem in Dresden und Pirna modernste Werke aus dem Boden gestampft. Als sie schließlich standen, zeigte sich, daß man mit zentraler Planung zwar leicht und schnell Großbauwerke hochziehen konnte, doch die von der Sowjetunion übernommenen Strukturen innerhalb der Betriebe ineffizient waren. Detaillierte Pläne funktionieren nur, wenn sie peinlich genau eingehalten werden. Ansonsten begann Chaos, das sich schnell verselbständigen konnte. Als weiteres Problem entpuppte sich das von Karl Marx entdeckte Phänomen der „entfremdeten Arbeit“. Zwar wurden die Arbeiter im Sozialismus nicht von einem Fabrikbesitzer ausgebeutet, dennoch blieb vielen Arbeitern ihre Arbeit fremd. Weniger beim ingenieurtechnischen Personal, mehr aber beim in zwei Schichten arbeitenden Flugzeugbauer, der täglich monoton tausende Nieten einschlagen mußte. Allein mit der sozialistischen Losung: „Arbeite mit, plane mit, regiere mit“ war der entfremdeten Arbeit, also der Entgegensetzung des Arbeiters als Produzent und Konsument arbeitsteiliger „fremder“ Waren, nicht beizukommen.

Da die anfängliche Planung der DDR-Luftfahrtindustrie auf der Annahme fußte, daß die Sowjetunion als Großkunde für DDR-Flugzeuge zur Verfügung steht, diese Annahme sich jedoch spätestens mit der definitiven Absage der UdSSR am 5. Juni 1959 in Luft auflöste, blieb der DDR-Führung nur noch die Entscheidung zwischen einem Weitermachen auf kleinerer Stufenleiter oder der vollständigen Auflösung der Luftfahrtindustrie. Die Staatliche Plankommission kam schließlich Ende 1960 zu der Erkenntnis, daß ein Weitermachen riesige Folgekosten zum Beispiel bei der Ersatzteilversorgung nach sich ziehen würde. Am 28. Februar 1961 gab das Politbüro der SED die Empfehlung an die Regierung, den Flugzeugbau einzustellen und dessen Kapazitäten auf die Automatisierungstechnik umzustellen. Am 17. März folgte die Regierung der DDR diesem Vorschlag. Alle im Bau stehenden Flugzeuge vom Typ 152 (V4 bis 014) wurden verschrottet. Die Ersatzteilproduktion für die 80 in Dresden und Karl-Marx-Stadt gebauten Flugzeuge vom Typ IL-14P lief noch bis 1982. Der Absturz der 152 V1 hatte auf den Verlauf der Ereignisse nur einen psychologischen Einfluß.

In der neuen Endmontagehalle 222 in Dresden-Klotzsche wurden alle Flugzeuge vom Typ 152 gebaut.